Montag, 31. August 2015

ein Stück Heimat in der Ferne


"Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss" - Johann Gottfried von Herder

Ein Stück Heimat, ein Stück Sich-Nicht-Erklären-Müssen haben mir in den letzten Wochen meine beiden Estland-Besucher gebracht. Erst kam Dieter, bevor er sich auf seine große Reise nach Brasilien begeben hat, und dann Julia, meine Weltenbummlerin.

Mit Dieter ging es auf große Tagesreise nach Helsinki - von hier mit der Fähre nur knapp zwei Stunden entfernt. Dort konnten wir zu Fuß die gesamte Stadt erkunden, die für mich besonders durch ihre Nähe zur Natur bestach. Mein persönliches Highlight waren die Felsen, die sich über Teile einiger Stadtteile erstreckten und von denen aus man einen wunderschönen Blick auf die Stadt hatte.


Gemeinsam mit Julia habe ich Tallinn noch einmal aufs Neue erkundet. An unserem letzten Abend waren wir außerdem bei einer Veranstaltung im Hafen, zu der jedes Jahr an allen Küsten in Estland und in Skandinavien große Feuer gemacht werden, um die Zugehörigkeit zum Küstenvolk zu symbolisieren. An diesem wunderbaren Abend führte auch eine estnische Volkstanzgruppe, gekleidet in wunderschönen estnischen Trachten und mit einem breiten, lebenslustigen Lächeln auf dem Gesicht, einige traditionelle Tänze auf.










Dienstag, 25. August 2015

Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus und Kommunismus

na, wer findet Julia und mich auf diesem Pressefoto?


Mit einem bedrückenden Gefühl beobachte ich gemeinsam mit Julia das Spektakel am Unabhängigkeitsplatz. Auch wenn ich fast nichts verstehe, so entnehme ich den Reden auf Estnisch doch das Wichtigste: "Kommunism", "Fašism", "vabadus". "Kommunismus", "Faschismus" und immer wieder "Freiheit", "Freiheit", "Freiheit". Der einzige englischsprachige Beitrag des britischen Botschafters in Estland gibt mir ein beklemmendes Gefühl - "wie 1939" wiederholt er wieder und wieder, vergleicht die Sicherheitssituation Europas 1939 mit jener von heute. Während der anschließenden Kranzniederlegungszeremonie habe ich einen Kloß im Hals, muss mir ein paar Tränen verkneifen bei dem Gedanken, was die Menschen in diesem Land schon mitgemacht haben und welche unglaubliche Angst, vielleicht auch welchen Hass, sie bei den Worten der Redner verspüren müssen. Eigentlich würde ich diese scharf kritisieren, als Anstachelung, die nicht zu einer Besserung der aktuellen Lage beitragen wird. Aber heute, am Gedenktag, geht es um Aufklärung, um Bewusstsein, um Wachsamkeit. Die eingeladenen russischen Vertreter haben abgesagt, sehen anscheinend keinen Anlass irgendjemandem oder irgendetwas aus der mit ihnen verstrickten Vergangenheit zu gedenken. Es hagelt harsche Kritik für diese Absage.
Aber auch deutsche Vertreter kann ich nirgends finden und frage mich, warum deren Abwesenheit nicht angesprochen wird. Sicherlich ist der Grund dafür ein anderer, als der für die russische Abwesenheit, aber dennoch. Man merkt, dass wieder einmal die Schrecken des Kommunismus präsenter, irgendwie tiefer sitzen als die des Nationalsozialismus.

Im Jahre 2009 erklärte das Europäische Parlament den 23. August zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und Kommunismus. Na, wer hat von diesem Gedenktag schonmal etwas gehört? In den westeuropäischen Ländern, die zumindest vom Kommunismus offensichtlich nicht oder nur teilweise betroffen waren (Deutschland bildet da sicherlich eine Ausnahme), ist das Bewusstsein für die Gräueltaten meist nur im Bezug auf den Nationalsozialismus vorhanden. Doch während das dritte Reich ein ständiges Thema überall in Europa und selbst der Welt ist, warden die Schrecken der UdSSR nur selten thematisiert. Hier in Estland ist das anders. Hier wird den Opfern beider Schreckensregime gedacht. Hier fordert man eine breitere Aufklärung über die Opfer des Kommunismus in Westeuropa.
 
So trafen sich auch in diesem Jahr Vertreter zumeist osteuropäischer Länder am 23. August hier in Tallinn, um auf einer gemeinsamen Konferenz der Opfer zu gedenken und, darüber hinaus, eine internationale Instanz ins Leben zu rufen, die den Gräueltaten des kommunistischen Regimes in der UdSSR genauer nachgehen soll. Die große estnische Zeitungsagentur Postimees schrieb diesbezüglich (http://news.postimees.ee/3304017/editorial-remembering-the-victims-of-communism-and-nazism):
 
"Notice that the declaration was by Eastern European nations alone – those that have known the sufferings under communist yoke. These very nations will also need to labour that the topic gain a broader audience, involving the Western European nations."
 
Im dazugehörigen Artikel wird die Aufforderung deutlich, ebenso wie dem Nationalsozialistischen Regime auch dem Kommunistischen nachzugehen - Ermittlungen, die bisher zum Großteil versäumt wurden. Besonders in den westeuropäischen Ländern scheint es daher überhaupt kein Bewusstsein für die Gräueltaten dieses Regimes zu geben. Wusstet ihr, dass während der stalinistischen Säuberungen schätzungsweise zwischen 3 und 20 Millionen Menschen verfolgt und getöten wurden?
In Westeuropa, vor allem in Deutschland, scheint dies allerdings hinter den Schrecken des Nationalsozialismus unterzugehen. Der Postimees Zeitungsartikel liefert dazu das passende Bild:
("Hör auf mich anzustarren! Schau dir an was diese Nazi-Bastarde getan haben")
Klar ist, dass mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden muss. Klar ist, dass Westeuropa sich hier entschiedener hinter die osteuropäischen Staaten stellen sollte. Letztendlich wird ein offenere Umgang mit der kommunistischen Geschichte vielleicht auch aufgestaute Ängste und Wut der estnischen Bevölkerung ihrer russischsprachigen Minderheit gegenüber mindern können, damit diese Bevölkerungsgruppen endlich besser aufeinander zugehen können und den europäischen Gedanken der kulturellen Vielfalt auch in ihrem Land leben können.
 

Dienstag, 18. August 2015

Nachtrag Estnisch

kleiner Nachtrag zur estnischen Sprache, zwei interessante Fakten habe ich nämlich vergessen :)

1. Lisa heißt auf estnisch "mehr" oder "weitere", deshalb steht mein Name hier so gut wie überall, vor allem auf Internetseiten :) Den Namen Lisa gibt es hier zwar auch, der wird dann aber Lisaa geschrieben - glaube ich.

2. Im Estnischen gibt es kein Männlich und Weiblich. Sehr emanzipierte Sprache.

24 Jahre Unabhängigkeit - 24 Jahre Parallelwelten

Wie bereits im vorherigen Artikel angesprochen, existiert das estnische Volk an sich zwar schon lange  - dessen Recht auf Selbstregierung wurde ihnen allerdings in der Geschichte immer wieder von ganz unterschiedlichen Nationen verweigert. Den Esten wirklich spürbar in Erinnerung geblieben ist allerdingt lediglich eine Besatzungszeit - die der Sowjets. Kein Wunder könnte man sagen, das war ja auch die letzte, die viele noch hautnah miterlebt haben. Das stimmt zwar und ist ein sehr ausschlaggebender Faktor, allerdings ist hier Besatzer nicht gleich Besatzer. Als die Nazis hier 1940 nach einem Jahr sowjetischer Besatzung einmarschierten wurden sie nämlich mit freudigem Applaus und Begeisterung empfangen - als Befreier vom ersten Jahr sowjetischer Besatzung, in dem ca 8000 Esten in Gefangenschaft gerieten und 10.000 Männer, Frauen und Kinder in die Sowjetununion zwangsdeportiert wurden. Zwar wurden unter deutscher Besatzung 8000 Esten getötet und mehrere tausend kamen in Konzentrations- und Gefangenenlager, allerdings scheinen die Esten das auch heute noch weniger schlimm wahrzunehmen, als die Repressionen, Tötungen und Deportationen durch die Sowjets, die nach 1944 bis 1991 fortgeführt worden.
Dieser Teil der estnischen Geschichte ist auch heute in Tallinn noch allgegenwärtig. Überall, wo man hingeht, hört man Menschen Russisch sprechen. Wenn man mit Einwohnern reden möchte, muss man nur ihr Alter abschätzen und kann dann entscheiden, ob man sie lieber auf Englisch oder auf Russisch anspricht (Estnisch ist für mich leider keine Option), da der Großteil der Bevölkerung über 40 kein Englisch, sondern lediglich Russisch als Fremd- oder natürlich sogar als Muttersprache spricht. Denn die russische Minderheit, von der hier so oft gesprochen wird und deren Vorfahren zu Sowjetzeiten hier als Teil der Russifizierungsmaßnahmen angesiedelt wurden, macht in Estland mehr als 1/4, sogar fast 1/3, der Bevölkerung aus. 
Von einem Zusammenleben kann allerdings nicht die Rede sein. Als ich hier ankam, vor mittlerweile fast 4 Wochen, riet man mir bloß nicht mit dem Bus zwei Haltestellen zu weit zu fahren - dort seien die Russen, und es könne gut sein, dass die betrunken und bewaffnet durch die Straßen ziehen (Wenn man gerade aus Moskau kommt und das Land und einige Leute ins Herz geschlossen hat, ist das die perfekte Begrüßung). Man muss dazu sagen, dass dieser Ratschlag von meinen Gastgebern stammte, die beide sehr große Antipathien gegen Russen und Russland hegen - wie viele Esten, leider. Vor ein paar Tagen habe ich herausgefunden, dass ich nichtsahnend bereits mehrere Male in diesem Viertel unterwegs war und es, bis auf die relativ häufigen Ruinen, sogar ganz nett fand. In Gesprächen im Praktikumsbüro, in dem übrigens drei Russen (und zwei Esten) arbeiten, wurde ich dann darauf aufmerksam gemacht dass die Abneigung vieler Esten gegen die russische Bevölkerung darauf zurückzuführen ist, dass ein Familienmitglied zu Sowjetzeiten zu den über 30.000 nach Sibirien deportierten Esten  gezählt haben könne. In diesem Fall sitzen die Narben natürlich besonders tief.

Wenn dann, in der aktuellen Situation mit Russland, die russischsprachige Minderheit teilweise noch den Wunsch äußert, Estland solle zu Russland gehören, dann ist der Ärger der Esten bzw. deren Angst aber auch irgendwie verständlich. In dieser angespannten Lage reichen dann auch kleine Provokationen - wie der junge Mann der mit breiter Brust heute morgen seine "Russia"-Jacke spazieren führte, einen Tag vor dem esntischen re-Unabhängigkeitstag wohlgemerkt, -um den Kessel zum überlaufen zu bringen. Auch wenn ich wirklich versuche, mich von dieser Stimmung nicht anstecken zu lassen, ertappe ich mich doch hin und wieder dabei wie ich es einfach dreist finde, wenn dieser Mann sehr unsensibel seinen Nationalstolz in einem viele Jahre gepeinigten Land durch die Gegend trägt, wenn es als selbstverständlich angesehen wird, dass jeder hier Russisch spricht - dabei hat der Großteil der jungen Generation diese Sprache nie gelernt. 

Das "Nebeneinanderherleben" zieht sich hier durch viele Bereiche des Lebens und wird davon, dass die russischschprachige Bevölkerung sich hier hauptsächlich über das russische Staatsfernsehen informiert und die estnischsprachige über estnische Medien, die meiner Meinung nach den Konflikt oft nur noch anheizen, sicher nicht begünstigt. So erklärten in einer erst kürzlich durchgeführten Studie des estnischen Verteidigungsministeriums 64% der Esten sie würden Russland immer noch als die größte Bedrohung für das eigene Land wahrnehmen- unter der russischsprachigen Bevölkerung teilen diese Meinung lediglich 6%. Zudem befürchten 61% der Esten, ihr Land könne von einem anderen Land eingenommen werden. Man sieht, die Wunden einer jahrhundertelangen Geschichte der Fremdokkupation sitzen tief. Vor kurzem bin ich auf einen Artikel in den europäischen Medien gestoßen, der ganz offensichtlich die Angst der Esten vor ihren russischsprachigen Mitbürgern mindern soll. Darin werden mehrere junge, russischsprachige Leute aus den drei baltischen Ländern zu ihrer Positionierung zu Russland befragt - solche Artikel scheinen hier wirklich bitter nötig zu sein, um das Zusammenleben zu erleichtern. Hier ein Auszug (http://www.euractiv.com/sections/europes-east/new-generation-baltic-russian-speakers-310405):

Elena, an Estonian schoolgirl, is also a fine example of the delicate Russian-Estonian demographic melting pot. She emphasises that while her mother tongue is Russian, that does not make her a Russian compatriot. “I was born in Estonia,” she explains. “It is my homeland.” She is sceptical that Russian speakers have genuine grievances in Estonia, and suggests that “people imagine some kind of problems.”
Anton, a 24-year-old Russian speaking student from Tallinn, considers Estonia to be his home. Furthermore, he shuns the notion of being defined as a Russian compatriot. He argues: “I do not consider myself as a compatriot, because apart from the Russian language, nothing ties me with Russia.”
He also added that he has “sworn allegiance to Estonia”. When asked if he thinks that Russian speakers in Estonia have legitimate grievances, he provided a quick and brief response, “What kind of provocative question [is that]… I’m fine.” He wittily added, “The ones who do all the complaining, do not do anything. At school they needed to learn [the Estonian language], but not drink in the alleys.” For those Russian speakers that would say they require Russia’s protection, he provided a short but firm answer suggesting that Russia is only a short train ride away: ”If they think they need Russia’s protection, please…luggage, station, Russia.”
Eine beruhigende Wirkung haben diese Aussagen der jungen Leute sicherlich und vielleicht ist dieser Artikel deshalb sehr wichtig. Gleichzeitig muss ich aber sagen dass es eigentlich enttäuschend ist, dass Derartiges nötig ist, dass die Leute sich nicht einfach denken können, dass diese neue Generation baltischer Russen die Sowjetunion nie kennengelernt hat, dass man diese Generation nicht für die Fehler ihrer Eltern und Urgroßeltern verantwortlich machen kann und darf. 
In a nutshell: Beziehungsstatus zwischen russisch- und estnischsprachiger Bevölkerung in Estland: Es ist kompliziert. Auch wenn es schade ist, dass erst die noch größere Angst vor Russland heute die Politiker hier wachrüttelt und endlich stärkere Integrationsmaßnahmen ergriffen werden sollen, ist dies vielleicht jetzt auch eine Chance, die Parallelwelten zusammenzubringen. Von einem Tag auf den anderen, wird dies allerdings nicht möglich sein. 
Für heute, zum 24. re-Unabhängigkeitstag der Republik Estland, verbleibe ich deshalb mit einem hoffnungsvollen "Happy Essti taassiseseisvumispäev" - einen frohen estnischen Unabhängigkeitstag. Hoffen wir das die nächsten Jahre diesem Land und dessen eingeschüchtertem Volk helfen können, mehr Selbstsicherheit zu erlangen und sich dadurch mehr für die "neue" russischsprachige Bevölkerung in Estland öffnen können. 

P.s.: Die Esten arbeiten gerade auch mit Hochdruck an einer sogenannten data embassy, einer digitalen Botschaft, die das Land auch regierbar und vor allem verwaltbar  machen soll, sollte das Land physisch eingenommen werden. Die Idee, wenn ich alles richtig verstanden habe, ist es, alle relevanten Daten in eine Cloud zu schieben, auf die man entweder von Servern in den estnischen Botschaften oder von dafür extra eingerichteten Servern im Ausland, den digital embassies, zugreifen kann. Hintergrund: das Beispiel der Ukraine-Krise zeigt, dass wenn ein Gebiet eingenommen wird auch die dortigen Daten in die Hände des "Eroberers" fallen. Somit gibt es beispielsweise auf der Krim jetzt große Schwierigkeiten für Eigentümer, ihre Rechte auf ihr Grundstück nachzuweisen, da die Register entweder schon zerstört worden sind oder aber einfach in Händen der Russen sind.
inoffizieller Hintergrund - meine eigene Interpretation: hier zeigt sich nochmal die Angst der Esten, von einem anderen Land erneut erobert zu werden. Die data embassy trifft dafür dementsprechende Vorkehrungen.

Der Unabhängigkeitsplatz mit links dem Unabhängigkeitskreuz, eigentlich glaube ich eine Art Bundesverdienstkreuz, und rechts die Flagge wurde in Vorbereitung für das Konzert zum Umabhängigkeitstag heute aufgehangen.

Samstag, 15. August 2015

das Volk, das nie ein Volk sein durfte und jetzt voll auf die Kacke haut

Ich mache jetzt hier einmal etwas,was man als Kulturwissenschaftlerin eigentlich niemals machen dürfte, was in diesem Falle aber angebracht ist,  um einen kleinen Eindruck dieses Landes - und vor allem der Bewohner dieses Landes zu geben. Schließlich sprechhen wir hier von einem europäischen Land mit einer sehr kleinen Bevölkerungszahl (1,3 Mio) und Landfläche, bei dem die meisten - bis vor einem Jahr ich eingeschlossen - nicht einmal wissen, wo es genau liegt, geschweige denn was für Möglichkeiten und Herausforderungen dieses Land bietet. Teile des Textes musste ich für mein Praktikum schreiben, wundert euch also nicht über den evtl. gehobenen Tonfall :D

Geschichte Estlands
Trotz jahrhundertelanger Besatzung durch Dänen, Schweden, Polen, Deutsche und schließlich Russen haben es die Esten geschafft, ihre Kultur, ihre Erzählungen und ihre Sprache trotz oft repressiver Verbote zu bewahren und weiterzugeben. Nach einer kurzen Periode der nationalen Souveränität von 1923-1938 wurde diese erst wieder im August 1991 in Folge eines Erstarkens der nationalen Identität ab 1986/1987 erlangt. Im Rahmen der „singenden Revolution“, des baltischen Weges und anderer, oft studentischer öffentlicher Versammlungen, die die kulturelle Unabhängigkeit von der Sowjetunion aufgrund der eigenen, estnischen Traditionen sowie der estnischen Sprache hervorgehoben hattenhatte man die Unabhängigkeit Estlands friedlich „erkämpft“. Estland als solches ist also sogar noch jünger als die ehemalige DDR und hat dennoch in den letzten 24 Jahren der Unabhängigkeit (übrigens die längste Unabhängigkeitsperiode, die Estland JEMALS erlebt hat) eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht. Aber kommen wir zunächst einmal zu den alteingesessenen estnischen Traditionen, die über die ewige Fremdbesatzung überdauert haben.

Sprache, Kultur und E-stonia

Zu den wichtigsten identitätsstiftenden Elementen der Esten gehört ihre Sprache, obwohl, oder gerade da sie lediglich von einer guten Million Menschen gesprochen wird und sich selbst gegen jahrzehntelange Russifizierungsmaßnahmen durchsetzen konnte. Estnisch ist für deutsche Ohren aus diversen Gründen eine sehr, sagen wir amüsante Sprache. Hier die Beobachtungen eines unwissenden, gelgentlichen Zuhörers (kein Anspruch auf Richtigkeit):

1. Menschen, die es im Deutschen nicht ausstehen tun können, wenn jemand Sätze immer so formulieren tut, wie ich es grade machen tue, werden es in Estland wahrscheinlich schwer haben, denn manche Wörter werden hier mit "tud" am Ende gebildet - ich glaube, das drückt den Passiv aus.

Beispiele: reserviert - reserveeritud

                geöffnet - avatud

                geschlossen - suletud

                geliebt - armastatud....und so weiter

2. Vokale spielen im Estnischen eine noch wichtigere Rolle, als in anderen Sprachen. Wird ein Vokal lang ausgesprochen, so setzt man ihn ein oder mehrmals hintereinander, so ähnlich wie beim Deutschen "Meer"

Beispiele: Õueala - Hofgegend

                Jäääär - Eisrand

                Kõueöö - Unwetternacht

                Puuõõnsus - Baumhöhle

                Töö-öö - Arbeitsnacht

3. meiner Meinung nach ist Estnisch die perfekte Frauen-sprechen-untereinander-quietsch Sprache, unter anderem wegen Punkt 2, da man alles nach belieben laaaaaaang ziehen nd quietschen kann :)

ein Beispiel: Hallo hießt auf Estnisch "Tere" [tärää ausgesprochen] und man kann das äääää am Ende, je nach Tageslaune, gerne auch ganz lang ziehen :)

4. fun fact für uns Deutsche: obwohl Estnisch mit dem Finnischen sehr eng verwandt ist, gibt es einige deutsche Lehnwörter, darunter z.B. Sprache - keel (dt. Kehle)

                                                        Hund - koer (dt. Köter)

                                                        Mütze - müts

                                                        Schnaps - naps (im Estnischen gibt es kaum Zischlaute)

                                                        Bild - pilt

                                                        Reisebüro - reisibüroo

                                                        

Weitergegeben wurde die estnische Sprache über die Jahrzehnte und –hunderte vor allem auch in Volksliedern, die die Esten bis heute anlässlich der 2003 durch die UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärten Sängerfeste (estnLaulupidu) gesungen werden. Mit Beginn des nationalen Erwachens in den 1860er Jahren initiierte Johann Voldamar Jannsen, Verfasser des Textes der heutigen estnischen Nationalhymne, 1869 das erste Sängerfest in Tartu. Seit 1950 findet das Fest, begleitet vom jüngeren, aber ebenso traditionellen Tanzfest, alle fünf Jahre statt und zog damit zuletzt 2012 200.000 aktive Teilnehmer und Zuschauer an.


Neben diesen sehr klassischen Elementen der estnischen Kultur, kann man heutzutage aberdurchaus auch technologisches know-how als Teil der neueren estnischen Identität identifizieren: weltweit ist das kleine baltische Land für seine hochmoderne digitale Gesellschaft bekannt, deren erfolgreichster Sprössling wohl die (ehemalige) Skype Technologies SA ist. Oft nennt man Estland sogar nur noch "E-stonia". Innerhalb kürzester Zeit sind neue Technologien in Estland in den Alltagsgebrauch übergegangen - 84% der Esten zwischen 16 und 74 Jahren nutzen so täglich e-Services wie m-Parking, m-Payment, e-School und e-Prescriptions.Jeder denkbare Sektor des öffentlichen Lebens wird durch e-Cabinet, e-Law, e-Police und i-voting und digitalisiert, die bürokratischen Aufwand mindern und Administration und Bürger annähern sollen. 

Seit Ende 2014 gibt es in Estland sogar die e-residency, die Möglichkeit, estnischer e-Staatsbürger zu werden. Diese "Staatsbürgerschaft" ist zwar nicht mit einer richtigen Staatsbrügerschaft geschweige denn einem Visa gleichzusetzen, allerdings ermöglicht sie den Zugang zu vielen dieser e-Services, vor allem mit dem Ziel, Unternehmensgründer von online Unternehmen ins Land bzw. ins digitale Estland zu locken.


In Sachen Technologie und Internet ist Estland ein großes europäisches Vorbild, wahrscheinlich gerade deshalb, weil die Technologie hier nicht nur als reiner Service angesehen wird. Linnar Viik, Dozent am estnischen IT College, Regierungsberater und Mitverantwortlicher für die rasante informationstechnologische Entwicklung des Landes, sagte diesbezüglicht: “for young Estonians […] the internet is […] a symbol of democracy and freedom - Freiheit von den russischen Besatzern, Freiheit die eigene Identität zu leben und Freiheit, sich der Demokratie und dem Westen zuzuwenden. So nennt Viik zwei zentrale Gründe für die rasche technologische Aufholjagd, nach der wiedererlangten Unabhängigkeit. Einerseits, die kulturelle und wirtschaftliche Nähe zu Skandinavien bzw. den technologisch fortschrittlichen finnischen Nachbarn, andererseits das Bestreben, sich gegen die russischen Nachbarn abzusichern. Hätten diese die zentralen Kontaktmöglichkeiten Estlands  zur Außenwelt kurz nach dem Erlangen der Unabhängigkeit abgeschnitten (Fernsehturm, Radio, Zeitung), wäre das Internet als Brücke in den Westen eine letzte, verlässlichere Alternative gewesen.

Auch heute noch ist Estland ein Vorreiter in Sachen Cyber Security und arbeitet in diesem Bereich eng mit EU und NATO zusammen. Kleiner fun fact zum Ende: bei einem sehr ernstzunehmenden Cyber Angriff 2007 konnten die Informatiker die Hacker nur aus dem System schmeißen, indem sie nur noch Eingaben in estnischer Sprache zugelassen haben. Diese spricht, wie bereits gesagt, auf der Welt fast niemand.

Samstag, 1. August 2015

Meeresluft schnuppern

Sand in den Augen, Wind in den Haaren, Meeresrauschen, Möwengeschrei.

Heute habe ich endlich das Meer gefunden. Nach einem kleinen Spaziergang durch einen Wald direkt hinter unserem Wohnviertel (50% der Fläche Estlands sind Waldfläche) stand ich plötzlich in den Dünen, in denen sich bei gefühlt 15 Grad genug Leute zum Sonnenbaden in Badehose und Bikini versteckt hatten. In meinen Übergangsmantel eingepackt hab ich es diesen rauen fast-Skandinaviern (Estland bezeichnet man auch als das Skandinavien des Baltikums) dann gleichgetan, mich in den weichen Sand gelegt und, die Sonne auf dem Gesicht, das Meer im Blick, ein Buch gelesen.

Kleine Anekdote zur Meeresnähe meiner Unterkunft: täglich kommen Wladimir und Waldimir Junior an unseren Fenstern vorbei, um sich von Daisi, meiner Gastgeberin, mit Hundefutter füttern zu lassen. Offiziell ist das Füttern von fremden Vögeln am Fenster zwar verboten (es scheint sich um ein häufigeres Problem in dieser Umgebung zu handeln, aber Daisi entgegnet dem schlicht und einfach, Wladimir und Wladimir Junior gehörten zur Familie. 
 Wladimir Junior, der gerade fleißig mit dem Schnabel gegen mein Fenster hämmert, weil er gefüttert werden möchte

eine Woche Tallinn

Nach 40 Arbeitsstunden, 4 Litern Kama (ein estnisches Getränk aus Kefir und einem Getreidepulver), 10 Stunden Spaziergang und ganz, ganz viel Ruhe ist meine erste Woche in Tallinn nun auch schon vorüber.
Dabei wird mein erster Eindruck des Landes vor allem von Vielseitigkeit geprägt, die die Straßen Tallinns perfekt widerspiegeln: während sich das Zentrum urig, mittelalterlich präsentiert, mit vielen Handarbeitsläden, Kneipen und vor allem viel Kopfsteinpflaster, strotzt das Rotermann-Viertel, in dem sich auch mein Praktikumsbüro befindet, nur so vor Moderne, Design und Lifestyle. In den Wohnvierteln um den Stadtkern herum findet man dagegen vor allem alte Sowjetbauten, verlassene und Häuser und Ruinen, Graffiti, löchrige Straßen. In Tallinns Straßen vereinen sich Tradition und Moderne, Geschichte und die Ungeduld nach einer besseren Zukunft. 
Dementsprechend sind die jungen Esten hier sehr europäisch, sprechen fließend Englisch und engagieren sich für die weitere Integration des Landes in die EU, während die Älteren außer Estnisch lediglich Russisch verstehen und manchmal, so scheint es mir, den plötzlichen Umbruch des Landes noch verarbeiten müssen. Aber auch der Wunsch der Jungen, "dem Westen" anzugehören, wird von der langen Geschichte der Fremdbesetzung dieses kleinen Landes immer noch eingeholt. So wehren sich die Esten vehement gegen den EU-Beschluss der Flüchtlingsquota, nach der ca. 1000 Flüchtlinge nach Estland kommen sollen. Das Argument: wir waren lange genug von Ausländern besetzt und müssen mit den Folgen dieser Besetzung noch immer kämpfen (gut 1/3 der Bevölkerung sind Russen), deshalb wollen wir uns sicher nicht noch mehr Fremde in unser Land holen. Das Studium englischsprachiger Zeitungen des Landes setzte mich zudem darüber in Kenntnis, das es hier, wie auch in Deutschland, sehr verstärkt den Problemsatz "Ich bin kein Rassist, aber" zu hören gibt. 

Und auch die Spannungen zwischen der russischen und der estnischen Bevölkerung sind deutlich zu spüren. An der Supermarktkasse, wenn der alte, russische Herr beharrlich Russisch mit der Kassiererin spricht und diese davon sichtlich nicht erfreut ist und  wenn meine Gastgeber mir raten, nicht in das russische Viertel ein paar Haltestellen weiter zu fahren. Viele Esten sind überzeugt, dass sich die Russen hier Sowjetunion zurückwünschen. Dementsprechend ist die negative Haltung der russischen Minderheit gegenüber auf gewisse Weise nachvollziehbar, besonders unter den aktuellen Umständen. 
Gut, dass ich erst in Russland und dann in Estland war/bin, sonst wäre ich auf jeden Fall noch voreingenommer als sowieso schon nach Russland gereist.